„Es gibt einen Grund, der mich hält“
Pfarrer Eugen Eckert über die Kraft der Musik in schweren Zeiten
Es gibt Ereignisse im Leben, die uns von heute auf morgen aus der Bahn werfen, uns die Kraft rauben. Im Gespräch mit Stefanie Bock erzählt der Frankfurter Pfarrer und Liedermacher Eugen Eckert, was ihm in schweren Zeiten Kraft gibt und welche Erlebnisse ihn geprägt haben.
Der Verlust der Arbeitsstelle, eine schwere Krankheit, Einsamkeit, Zweifel: Es gibt Zeiten in unserem Leben, die uns an unsere Grenzen bringen. Was gibt Ihnen Halt?
Eckert: Kennen Sie die Bach-Motette „Jesu, meine Freude“? Darin heißt es ganz widerborstig: „Trotz dem alten Drachen, Trotz dem Todesrachen, Trotz der Furcht dazu! Tobe Welt, und springe; ich steh hier und singe in gar sichrer Ruh. Gottes Macht hält mich in acht, Erd und Abgrund muss verstummen, ob sie noch so brummen“. Zu unfassbar kraftvollen Tönen ist das ein Text, der sagt: Ich nehme wahr, was an Problemen um mich herum geschieht. Ich bin nicht sicher, ob ich diese Stürme überstehen kann. Ich weiß nicht, was am Ende herauskommt. Aber es gibt einen Grund, der mich hält. Das ist genau die Kernaussage, mit der ich mein Leben gestalte.
Kennen Sie kein Hadern?
Eckert: Doch, aber Hadern bringt ja nicht weiter. Ich habe gerade mit einer jungen Frau zu tun, die unheilbar an Brustkrebs erkrankt ist. Sie sagt: Jetzt bleibt mir noch Zeit. Sie steckt ihre Kraft nicht in Hadern, Fluchen, Schimpfen, sondern nutzt die Möglichkeit, jetzt das zu machen, was ihr wichtig ist. Das beeindruckt mich.
Woher nehmen Sie ihr großes Vertrauen in Gott?
Eckert: Ich habe immer wieder die Erfahrung gemacht, gehalten und getragen zu sein. Die wird aber immer wieder auf die Probe gestellt. Vor Kurzem erst wieder: Ich gehe in eine Muckibude zum Trainieren. Einige der Mitglieder wissen, dass ich Pfarrer bin. Plötzlich fragt mich einer in der Umkleide: Was ist denn nun mit Deinem Gott? Warum kann der nicht Putin einfach sterben lassen und der Ukrainekrieg ist zu Ende. Da habe ich gefragt: Würdest Du das auch für Dich selbst wollen, dass Gott mit uns wie mit Marionetten spielt? Der eine Mensch wird fallengelassen, aus welchen Gründen auch immer, und mit dem anderen wird weitergespielt?
Das wollte er sicher nicht oder?
Eckert: Nein, wollte er nicht. Die Frage nach dem Vertrauen ist viel komplexer. Wir sind Geschöpfe, denen Gott Freiheit schenkt. Daraus resultiert aber auch Verantwortung. Wir haben das Recht und die Möglichkeit, zwischen „ja“ und „nein“ unser eigenes Leben selbst zu gestalten. Und natürlich kommen Dinge über uns, die wir uns nicht wünschen. Dann aber gleich zu fragen: „Warum lässt Gott das zu? Warum greift Gott nicht durch?“ ist für mich sehr fragwürdig.
Frage: Warum das?
Eckert: Vieles, worunter wir leiden, ist von Menschen selbst geschaffen. Zum Beispiel der Ukrainekrieg oder die Folgen der Klimakrise: Hitze, Trockenheit, Migrationswelle. Das hat mit Gott primär nichts zu tun, sondern damit, dass wir Menschen unsere Möglichkeiten missbrauchen aus Machtstreben und Egoismus.
Ist da Halt im Glauben zu finden möglich?
Eckert: Ja. Der Glaube ist aber nichts, was sozusagen senkrecht von oben in mich reingekommen ist. Viel mehr entwickelt er sich, erwächst aus Erlebnissen, aus Begegnungen und guten Erfahrungen. Ich habe Menschen in meinem Leben getroffen, denen ihr Glaube ganz festen Halt gegeben hat. Das hat mich geprägt.
Haben Sie ein Beispiel?
Eckert: Ich habe Theologie unter anderem in Mainz studiert, u.a. bei der wunderbaren Neutestamentlerin Luise Schottroff. Auch durch die Zusammenarbeit bei Kirchentagen wurden wir Freunde. Als sie vor einigen Jahren unheilbar an Krebs erkrankte, gehörte ich zu denen, die sie jeden Tag begleitet haben, jeweils mit einem 24 Stunden Dienst. Dabei haben wir viel geredet. Wir haben auch gelacht, selbst angesichts des Todes. Als eines Tages auch die Frage nach Sterbehilfe im Raum stand, sagte die befreiungstheologische und feministische Professorin zu mir „Das kommt für mich nicht in Frage, Eugen. Ich bin so fromm, dass ich sage, Gott hat mir das Leben geschenkt und wird sich mein Leben nehmen, wenn die Zeit dafür da ist.“ Eine ganz große Haltung. Ich hatte von dieser Frau schon so unglaublich viel gelernt. Und nun auch den Umgang mit dem Sterben. Solche Menschen haben mein Leben geprägt.
Wer hat Sie noch geprägt?
Eckert: In diesem Jahr jährt sich zum 40. Mal der Todestag der Familie Jürges, die durch den Absturz eines Starfighters während einer Flugshow in Frankfurt getötet worden ist. Martin Jürges hat mir in meinen Engagements für eine Offene Jugendarbeit und die Musik mit meiner Band ganz viel Vertrauen entgegengebracht. Nach seinem Tod war ich verzweifelt. Mitten im „Frieden“ hatte eine Kriegsmaschine meine Freunde getötet. Doch da war auch dieses „Trotzdem“: Sein Tod war für mich geradezu ein Appell, ganz entschlossen Theologie zu studieren. Ich dachte, wenn dieser Pfarrer, der mich so geprägt hat, jetzt nicht mehr weiterarbeiten kann, muss ich in diese Lücke springen. Es war also Traurigkeit, Verzweiflung und ein Aufbegehren gleichzeitig.
Gibt es eine biblische Figur, die Vorbild sein kann?
Eckert: Simeon – der Alte, der dasitzt und wartet. Der sagt, es wird diesen Tag der Wende geben. Ich vertraue auf Gott. Dabei verkriecht er sich nicht, erzählt das Lukasevangelium. Er zeigt sich jeden Tag öffentlich im Tempel. Und strahlt dabei Zuversicht aus. Und dann wird Jesus zur Beschneidung in den Tempel gebracht. Jesus zu sehen ist für ihn das, worauf er gewartet hat. Und Simeon sagt: Gott, jetzt haben meine Augen, das Heil Israels gesehen, jetzt kann ich sterben. Für mich ungeduldigen Menschen ist dieses Ausharren-Können mit innerer Überzeugung ein Hammer. Und natürlich, dass das Erhoffte auch eintritt.
Was bedeutet das für uns heute?
Eckert: Ein Beispiel. Ich gestalte musikalisch seit 25 Jahren Gottesdienste für Eltern, die ein Kind verloren haben. Sie finden an jedem zweiten Sonntag im November in der evangelischen Heilig-Geist-Kirche in Frankfurt statt. Eine zentrale Bedeutung ist, sich miteinander zu erinnern. Den Namen des Kindes zu nennen. Und eine andere Bedeutung hat mit dem Warten-Können zu tun, mit dem Warten darauf, als Eltern, Geschwister und Familien den Schmerz aushalten zu können, selbst weiterzuleben zu können, mit einer tiefen, aber vernarbten Wunde. Das braucht Zeit. Aber es wird der Tag kommen, an dem Betroffene wissen: Ich kann mich erinnern, aber ich kann auch nach vorne schauen. Ich muss manchmal immer noch weinen. Aber ich kann auch wieder lachen. Trotzdem.
Sie sind Musiker. Welche Rolle spielt die Musik als Kraftquelle?
Eckert: Wieder ein Beispiel. Ich erlebe bei Trauergesprächen oft, dass sich Angehörige nicht vorstellen können zu singen und für die Trauerfeier Musik vom Band wünschen. Wo immer es geht, ermutige ich dennoch zum Singen, weil es Angehörigen und Freunden die Chance gibt, nicht einfach nur stumm dabeizusitzen. Singen bietet die Chance, Mitgefühl und Solidarität auszudrücken. Auch wenn mir selbst nicht nach Singen zumute ist, kann ich hören, wie die Stimme des Lebens mich umgibt und mich vielleicht auf einer viel tieferen Ebene erreicht, als alle Worte, die wir sagen.
Musik als Therapie?
Eckert: Unbedingt. Singen entfaltet große Kraft. Vor allem das gemeinsame Singen. Ich bin nicht alleine, sondern mit anderen zusammen. Ich erzeuge mit anderen einen Wohlklang. Nicht ohne Grund wird Musik auch therapeutisch eingesetzt, unter anderem bei verhaltensauffälligen Kindern. Und in der Bibel konnte der Hirtenjunge David mit seiner Musik den schwermütig gewordenen König Saul ja auch trösten.
Verarbeiten Sie Erlebtes in ihren Liedtexten?
Eckert: Es gibt eine ganze Menge Liedtexte von mir, in denen ich Grenzerfahrung verarbeite. „Meine engen Grenzen“ etwa. Dieses Lied ist entstanden, als ich als junger Mann in einem Haus der Inneren Mission in Frankfurt gearbeitet habe, ein Wohnheim für Mädchen aus schwierigen familiären Verhältnissen. Ich war damals mitverantwortlich für den beruflichen Werdegang einer 16-Jährigen. Jugendlich naiv dachte ich, wenn man nur über Probleme redet, gibt es immer eine Lösung. Darum war es ein Schock für mich, als ich eines Tages an ihr Krankenbett in die Uniklinik gerufen wurde. Nach einem Suizidversuch lag sie im Koma. Sie ist mit 16 Jahren gestorben. Und ich stand da in den Trümmern meiner frommen Naivität und vor Grenzerfahrungen meines Glaubens. Was ich im Liedtext später verarbeitet habe, ist eine Verschlüsselung dieser Grenzerfahrung. Ich stand da und konnte nichts mehr machen für sie. Meine kurze Sicht: Ich habe geglaubt, zu einer Wende in ihrem Leben beitragen zu können. Und nun gab es nur noch meine ganze Ohnmacht und Traurigkeit. Diese habe ich mit der Bitte vor Gott getragen, Schlimmes in Gutes zu wandeln.
Schreiben Sie Lieder mit dem Ziel anderen Menschen Kraft zu geben?
Eckert: Ich weiß nicht, ob ich das Ziel habe, für andere zu schreiben. Das wäre vielleicht auch ein bisschen vermessen. Ich weiß, wie ich auf die Nachrichten in Zeitungen, wie ich auf tägliche Begegnungen, die immer wieder krisenhaft sind, reagiere und versuche, etwas dagegen zu setzen. Viele Lieder sind aus einer Traurigkeit oder Verzweiflung entstanden. Ich will aber weder im Pessimismus noch in Depression stecken bleiben. Ich bin ein optimistischer Mensch, ein glaubender Mensch.
Frage: Ein wunderbarer Mutmacher ist das Lied: „Von guten Mächten“ oder?
Eckert: Ja, vor allen Dingen, wenn man die Hintergrundgeschichte weiß. Dietrich Bonhoeffer war verlobt mit Maria von Wedemeyer und hat ihr aus der Gestapo-Haft und im Angesicht des Todes im Jahreswechsel 1944/45 das Gedicht als Trost geschrieben. Auch sein Text, der seither oft vertont wurde, ist aus subjektiver Perspektive entstanden. Bonhoeffer wollte nicht die ganze Welt trösten, sondern die Frau, die er nie würde heiraten können. Sein Trost lautet: Ganz gleich, was mit uns geschieht, wir sind und bleiben von guten Mächten geborgen.
Gibt es eine Melodie, die Sie begleitet?
Eckert: Ja, und sie hat auch ein „Trotzdem“. Seit meiner Kindheit trage ich das Lied „Weißt du, wieviel Sternlein stehen“ in mir. Der zentrale Satz darin lautet: „Gott kennt auch mich und hat mich lieb“ - obwohl es so viele Sterne gibt, obwohl so viele Mücken umherschwirren und Fische sich im Meer tummeln. Ich bin seit Jahrzehnten als Urlauberpastor auf der Insel Spiekeroog tätig. Die alte Insel-Kirche von 1695 hat einen gemalten Sternenhimmel am Gewölbe. Bis heute werden verstorbenen Insulaner unter diesen vielen Sternen aufgebahrt. Ein tröstliches Bild mit der Quintessenz: „Gott kennt auch dich und hat dich lieb“.
Wie ist ihre Hitliste für Lieder in schweren Zeiten?
Eckert: Da gibt es viele Lieder: Ganz oben steht: „Ein feste Burg ist unser Gott“, in dem Martin Luther dem Tod den Kampf ansagt. Als er das Lied schrieb, wütete die Pest „Und wenn die Welt voll Teufel wär“. Sterben und Tod umgaben ihn „Mit unsrer Macht ist nichts getan“. Aber die Zuversicht in Gottes Kraft ist stärker „Es streit für uns der rechte Mann, den Gott hat selbst erkoren. Fragst du, wer der ist? Er heißt Jesus Christ – das Feld muss er behalten“.
Und gibt es auch moderne Songs?
Eckert: „You raise me up“ von Josh Groban ist ein unfassbar kraftvoller Song. Oder von Udo Jürgens: „Ich glaube“. Darin heißt es: „Ich glaube, diese Welt müsste groß genug, weit genug, reich genug für uns alle sein. Ich glaube, dieses Leben ist schön genug. Bunt genug, Grund genug sich daran zu erfreuen“. Tolle Worte. Und aus meiner Arbeit ist es sicher der Habakuk-Song: „Und da war Kraft”, der von der großen, tröstenden Kraft im jeweiligen Du des Gegenübers erzählt.
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